Niko Kappel ist als Para-Sportler sehr erfolgreich. 2016 gewann der kleinwüchsige Athlet bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro die Goldmedaille im Kugelstoßen. Er war und ist von der Absage und Verschiebung der Paralympischen Spielen von Tokio betroffen. Neben dem Sport äußert er sich gerne zu gesellschaftlichen Themen und ist Mitglied im Gemeinderat von Welzheim. „Wir haben, so wie sich Europa bis zum heutigen Tage entwickelt hat, viel erreicht“, sagt Niko Kappel im Gespräch mit Maurice Lange, Mitglied der Studierenden-Projektgruppe „To unite Europe“. Er mahnt aber auch zu mehr Einigkeit.
von Maurice Lange, Hochschule Fresenius Heidelberg
Corona-Krise
Herr Kappel, die Corona-Krise ist sicherlich auch für Sie einschneidend. Wie haben Sie den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 erlebt und welche Einschränkungen haben Sie in dieser Zeit erfahren?
Wie alle anderen mussten wir Sportler uns auch sehr einschränken. In der Zeit während des ersten Lockdowns war der Olympiastützpunkt in Stuttgart geschlossen. Erst mit einer Ausnahmegenehmigung, die durch das Training bei den Profimannschaften im Fußball möglich wurde, durften die Olympia- und Paralympics-Athleten in Kleingruppen wieder am Stützpunkt trainieren. Diese Regelung sah in ganz Deutschland unterschiedlich aus. In München war das Training für lange Zeit nicht erlaubt, während die Athleten in Berlin trotz des Lockdowns durchtrainiert haben. Kurz vor dem Lockdown hatten wir noch ein Trainingslager in der Türkei absolviert. Während unseres Rückflugs wurde bekannt gegeben, dass sämtliche Flüge gestrichen werden. Vier Tage später war schließlich kein Training mehr möglich.
Nun stellte ich mir die Frage: Was mache ich jetzt? Letztlich konzentrierte ich mich auf das, was ich persönlich beeinflussen konnte. So funktionierte ich meinen Kellerraum um, den ich bisher als eine Art Abstellkammer genutzt hatte. Mit einem Freund habe ich Sachen aussortiert und entsorgt. Danach rief ich einen Fitnesshändler an und fragte nach, ob dieser noch Equipment wie Gewichte in seinem Geschäft vorrätig hat, da die Fitnessstudios ebenfalls geschlossen hatten und online vieles ausverkauft war. Dieser riet mir, dass ich schnell vorbeikommen soll, da viel Kundschaft bereits während der Mittagspause vor Ort war. Ich sagte ihm, dass ich alles mitnehmen würde, was an Trainingsgeräten da sei. Vor Ort einigte ich mich wie auf einem türkischen Basar mit anderen potenziellen Käufern. Selbstverständlich war hierfür ein ordentlicher Geldbetrag notwendig. Weiterhin konnte ich noch Equipment vom Olympiastützpunkt ausleihen. Anschließend konnte ich einen Trainingsraum in meinem Kellerraum einrichten. Ich war sehr stolz auf mich, weil ich als Bankkaufmann nicht unbedingt handwerklich begabt bin. So konnte ich etwa zweieinhalb Stunden am Tag trainieren. Letztendlich habe ich den Lockdown damit gut überstanden.
Sie waren direkt von der Absage der Paralympischen Spielen betroffen, schließlich hatten Sie sich lange auf diesen Höhepunkt vorbereitet. War die Verschiebung der Spiele auf 2021 die richtige Entscheidung?
Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung. Ich hatte die Verschiebung aktiv als einer der ersten Athleten gefordert. Da in Japan schon viele Vorbereitungen liefen, machte es keinen Sinn, die Entscheidung auf die lange Bahn zu schieben. Der Entschluss war nicht nur im Sinne der Athleten, da nach und nach die komplette Welt von dem Virus betroffen war. Der absolute Worst Case wäre gewesen, wenn die Welt in Japan zusammengekommen wäre und sich danach das Virus auf der ganzen Welt durch die Olympischen Spiele großflächig ausgebreitet hätte.
So hat man nun viel Zeit, Hygienekonzepte zu erarbeiten und weitere Erfahrungen im Umgang mit dem Virus zu sammeln. Wie auch immer die Spiele dann aussehen, sie können mit Einschränkungen und entsprechenden Konzepten stattfinden.
Europa
Gehen wir mal weg vom beherrschenden Thema „Corona“. Aufgrund Ihrer sportlichen Karriere bereisen Sie viele Länder in Europa. Welches Erlebnis in Bezug auf Europa ist Ihnen bisher sowohl sportlich als auch persönlich in Erinnerung geblieben?
Als positives Beispiel fällt mir als erstes sofort London ein. Bei den Paralympischen Spielen im Jahr 2012 konnte ich leider noch nicht teilnehmen, da ich zu jung, aber auch noch zu schlecht war. Schließlich fand 2017 die Weltmeisterschaft in London im Olympiastadion statt. Man merkte, dass der paralympische Sport dort durch die Spiele 2012 in Großbritannien angekommen ist.
Wie reagierten die Menschen vor Ort?
An den zuschauerstärksten Tagen fanden sich 40 000 bis 50 000 Menschen pro Session auf den Zuschauerplätzen wieder. Die Stimmung und Atmosphäre sowie die Aufmerksamkeit der Weltmeisterschaft ist mit den Paralympischen Spielen gleichzusetzen. Als Athlet hatte man keine Möglichkeit, nach dem Wettkampf auf die Tribüne zu gehen, weil die Menschenmasse dies verhinderte. Die Zuschauer wollten mit den Sportlern Bilder machen oder Autogramme ergattern. Es war ein unbeschreiblich tolles Gefühl, diese Situation mitzuerleben. Für mich ein absolutes Highlight. Daran ist zu erkennen, dass der paralympische Sport sehr weit in Großbritannien ist.
Wie weit sind wir bei diesem Thema in Deutschland?
Auch Deutschland braucht sich nicht zu verstecken. Beim Thema „Inklusion“ bewegt sich Deutschland sehr gut. Es ist aber sehr politisch geworden, da jeder Angst hat, etwas falsch zu machen, weil man dann an den Pranger gestellt werden könnte. Einerseits ist es für die Athleten gut, dass sich die Menschen mit diesem Thema beschäftigen und sie im Fokus sind, andererseits ist die Schwelle, an der man es völlig übertreibt, nicht weit. Inklusion sollte letztendlich mit allen Vor- und Nachteilen in einer Gesellschaft entstehen und keine Bevorzugung erhalten.
Wie sieht es in Europa allgemein aus?
Meiner Meinung nach ist die Situation in ganz Europa gleich. Wenn man als Kleinwüchsiger über die Straße läuft, wissen die Menschen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Klar ist, dass der ein oder andere auch mal blöd schaut. Aber ich schaue selbst blöd, wenn ich einen anderen Kleinwüchsigen sehe, weil ich in diesem Moment einfach nicht damit rechne, einen anderen Kleinwüchsigen zu treffen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass man schaut, wenn etwas anders als normal ist. Ich finde das überhaupt nicht schlimm.
Erkennt man Unterschiede zwischen Europa und den anderen Kontinenten?
Bei der Weltmeisterschaft 2019 in Dubai gestaltete sich die Situation schon anders als in Europa. Die Menschen können vor Ort nicht so viel mit diesem Thema anfangen. Ähnlich wie bei Kindern bekommt man mit, dass sie über einen reden. Persönlich kann ich darüberstehen, da sie es einfach nicht besser wissen. Ich habe eher Mitleid, weil die Bildung dort einfach schlecht ist. Wie sagt man so schön: Es geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.
In Europa sieht man so etwas sehr selten. Wir sind sehr weit und können darauf stolz sein.
Rassismus
Vor der Corona-Zeit kam es zu zahlreichen Vorfällen von Rassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass. Gerade durch den Todesfall von George Floyd in den USA und die internationale Bewegung „Black Lives Matter“ sind diese Themen aktueller denn je. Sie haben sich persönlich mit einem Video auf Instagram an der Bewegung beteiligt. Mussten Sie persönlich schon einmal bei Ihren Wettkämpfen in Europa so etwas erleben?
Nein, zum Glück nicht. Wenn man zu einem Wettkampf geht, wissen die Menschen mittlerweile, wer ich bin. Auch in früheren Zeiten hatte ich damit keine Probleme. Ich war im Kindergarten, machte meine mittlere Reife und meine Ausbildung zum Bankkaufmann. Weiterhin habe ich Fußball bis zur B-Jugend gespielt. Da war das nie ein Thema. Habe ich unter der Woche nicht gut trainiert, saß ich am Wochenende beim Spiel auf der Bank. Trainierte ich sehr gut, stand ich in der Startelf.
Klar kam es ab und zu vor, dass bei einem Auswärtsspiel vorher beim Gegner getuschelt wurde. Oft dachten die Gegner, dass wir nicht genug Spieler zur Verfügung hätten und wir deswegen junge Spieler nachholen müssten. Manchmal fiel auch der ein oder andere harmlose Spruch. Danach hatte ich aber den Ansporn, denen zu zeigen, wer etwas kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich bisher noch nie etwas Schlimmes erlebt habe.
Europa befindet sich momentan am Scheideweg. Durch Geschehnisse wie dem Brand im Flüchtlingslager in Moria oder das Niederschlagen der Proteste in Weißrussland erntet Europa und die Europäische Union ordentlich Kritik. Wie sehen Sie aktuell die Lage auf unseren Kontinenten?
Meiner Meinung nach ist es keine leichte Aufgabe, auf einem Kontinent, der jahrhundertelang unter Spannung stand und wo es immer wieder zu Kriegen kam, so viele Länder unter einen Hut zu bekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man gemerkt, dass es mehr Sinn macht, zusammenzuarbeiten und sich nicht gegenseitig zu schaden. Wir haben, so wie sich Europa bis zum heutigen Tage entwickelt hat, viel erreicht. Glücklicherweise gibt es keine Kriege mehr.
In der jetzigen Situation könnte Europa und die Europäische Union mehr machen, aber die einzelnen Länder sind in ihren Positionen meist zu weit auseinander. Des Weiteren sind manche Staaten wie Polen und Ungarn unruhiger in ihrer Politik geworden und tendieren zu einer rechtspopulistischen Denkweise. Daher ist es für Europa schwierig, als ein gesamtes Sprachrohr zu agieren. Es ist natürlich keine leichte Aufgabe bei so vielen Ländern.
Grundsätzlich ist es aber der vollkommene richtige Weg, in dieser Art und Weise zusammenzuarbeiten, denn das wird die Zukunft sein. Im Hinblick auf die Weltbevölkerung ist es nicht realistisch, dass Deutschland als Wirtschaftsmacht mit Ländern wie China und Indien langfristig an einem Tisch mitreden kann, da Deutschland gerade einmal ein Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Daher macht es Sinn, als Europäische Union an diesem Tisch mitzuwirken. Europa muss Einigkeit zeigen. Im Moment ist dies etwas schwierig, da vieles blockiert wird.
Der Brand im Flüchtlingslager in Moria deckte Schwachstellen und Probleme innerhalb Europas auf. Wie beurteilen Sie den Umgang mit diesem Vorfall?
Es ist schade und traurig, dass es bei so einem Thema, bei dem es um Hilfe geht und das zügig abgearbeitet werden müsste, eine lange Hängepartie gibt. Bei solchen Themen muss schneller gehandelt werden. Ich hoffe, dass es politisch gesehen in manchen Ländern ruhiger wird, man sich wieder besinnen kann und an einem Strang zieht.
Inwiefern könnte der Sport dazu beitragen, damit sich in Europa etwas ändert?
Der Sport war schon immer dazu da, um Menschen und Länder zusammenzuführen. Man sieht es beispielweise daran, dass vor den Olympischen Spielen in Pyeongchang 2018 Gespräche zwischen Nordkorea und Südkorea mit dem Plan stattfanden, dass Korea als eine Mannschaft bei den Wettkämpfen antritt. Während dieser Zeit gab es Verträge zwischen den Staaten, aber mittlerweile macht Nordkorea wieder sein eigenes Ding und das, was sie wollen. Aber in dieser Zeit hatte man das Gefühl, dass sich etwas bewegt, beide Seiten zusammenkommen und sich nicht mehr so weit auseinander bewegen. Das sind Momente, die wahnsinnig helfen.
Der Sport verbindet. Dieser Satz hat große Wirkung und wird deshalb von vielen Sportverbänden als Slogan und zur Werbung eingesetzt. Gerade auch, wenn es um das Thema „Rassismus“ geht. Wenn man sich zum Beispiel Begegnungen der deutschen Fußballnationalmannschaft oder ein Jugendspiel anschaut, zeigt sich, dass der Sport eigene Gesetze hat. Beim Fußball gibt es die Möglichkeit, das Tor zu treffen oder nicht. Triffst du das Tor, bist du der „King“ in der Mannschaft. Triffst du das Tor nicht, muss man sich halt tagelang anhören, was für ein bescheidener Abschluss das war. Deine Mitspieler interessiert es nicht, ob du groß oder klein bist oder welche Hautfarbe du hast, da es vorrangig um die sportliche Leistung geht.
Das ist genau das, was der Sport leisten kann. Das ist etwas ganz Besonderes. Hoffentlich können die Menschen genau das im Fernsehen oder in anderen Medien sehen und nehmen es als Vorbild für den Alltag.
Bei allen negativen Schlagzeilen und aller Kritik bietet Europa sehr viele Möglichkeiten. So bedeutet das Schengener Abkommen, dass die Bürgerinnen und Bürgern in Europa ohne Grenzkontrollen reisen können. Und wir Studierende können durch das Erasmus-Programm ohne Probleme ein Auslandsstudium, Auslandssemester oder ein Auslandspraktikum absolvieren. Worauf können die Menschen in Europa Ihrer Meinung nach stolz sein?
Das freie Reisen und die Kooperationen zwischen den Ländern bringen große Vorteile mit sich. Häufig wird das so nicht gesehen. Viele EU-Kritiker vergessen, dass Deutschland als Exportnation am meisten vom europäischen Binnenmarkt profitiert. Der Handel findet ohne Zahlungen für Zölle statt, um hier nur mal ein Beispiel zu nennen.
Die Nachwuchskräfte können sich in ganz Europa frei bewegen und Bildung erfahren. Jeder kann frei entscheiden und es sich so gestalten, wie er es möchte. Die Einigkeit ist viel wert, gerade wenn man an frühere Zeiten zurückdenkt. Im Jahr 1946 konnte sich ein Deutscher bestimmt nicht frei in Frankreich bewegen und sagen, dass er aus Deutschland kommt. Die Situation war komplett anders und es hat sich seither viel Positives getan.
Teilweise macht man freilich noch ganz spezielle Erfahrungen. Wir hatten uns vor einiger Zeit mal verfahren und waren an der Grenze zur Schweiz. Also sind wir kurz über die Schweiz weitergefahren und haben einen älteren Herrn nach dem Weg gefragt. Dieser schaute uns blöd an und sagte: „Ihr vom Deutschen Reich!“ In diesem Moment merkt man, dass zuweilen noch etwas Anderes in den Köpfen steckt. Da wird gerade den Menschen der jüngeren Generation, die zu der Vergangenheit nur eine Verbindung über ihre Großeltern haben, bewusst, dass es ein absoluter Gewinn für Europa ist zusammenzuarbeiten und an einem Strang zu ziehen.
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